Und dann fielen die Bomben: Die Geschichte von drei Ukrainerinnen und ihrer Flucht vor dem Krieg - Au Huur! Magazin
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Und dann fielen die Bomben: Die Geschichte von drei Ukrainerinnen und ihrer Flucht vor dem Krieg

Der Regen prasselt gegen die Fensterscheiben, trotzdem ist es ruhig in der Franzstraße 74. Ungewöhnlich ruhig für die vielen Menschen in den Zimmern voller Klamottenberge und Pappkartons. Kinder huschen zwischen den Beinen ihre Mütter durch den hellgelb gestrichenen Flur, der der Etage einen jugendherberglichen Flair verleiht. Ein kleiner Junge, höchstens fünf Jahre alt, schaut schüchtern zu uns rüber, aus dem Zimmer neben ihm dringen vereinzelt Stimmen ukrainischer Frauen. Dann folgt er seiner Mutter aus dem Flur. Kurz darauf kommt ein Mann vorbei, muskulös und mit groben Gesichtszügen. Rechts und links trägt er prall gefüllte Einkaufstüten. Mit starkem Akzent fragt er nach der Sammelstelle für die Sachspenden, hier, bei der Ukrainischen Gemeinde Aachen.

Fast zwei Monate sind inzwischen vergangen, seit Wladimir Putin den Beginn des russischen Angriffskrieges befohlen hat. Seitdem hat sich nicht nur die politische Situation in Europa völlig verändert, mit diesem Krieg verloren auch mehrere Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer ihr Zuhause, tausende ihr Leben. Wer bleibt, nimmt in Kauf, vergewaltigt, erschossen oder durch die Bomben getötet zu werden.

Der Angriff kam nicht überraschend, schon Wochen vorher versammelten sich russische Truppen an der ukrainischen Grenze. Es ist nicht der erste Versuch, die Souveränität der Ukraine ins Wanken zu bringen: Schon im Jahr 2014 annektierte Russland die Krim und verleibte sich damit ukrainisches Land ein. Die Krim ist eine Halbinsel im Schwarzen Meer, die wie die Ukraine bis 1991 Teil der Sowjetunion gewesen ist. Obwohl sie seit deren Zerfall zur Ukraine gehört, erhebt Russland immer noch Anspruch auf dieses Gebiet. Seitdem die Krim unter russischer Verwaltung steht, hat sich die Menschenrechtslage dort stark verschlechtert.

Mit einem lauten Quietschen öffnet sich die Eingangstür. Das Geräusch vieler Schritte hallt aus dem Treppenhaus zu uns hoch, wird lauter, bis schließlich vier Frauen im Flur stehen: Sara, Natalja, Ruslana und Elena.

Sara ist gebürtige Aachenerin, teilt sich ihre Wohnung seit ein paar Wochen aber mit den drei Ukrainerinnen. Sie wollen von ihrer Geschichte erzählen, von der Vertreibung, der Flucht und dem Verlust, wie ihn so viele Ukrainerinnen und Ukrainer erlebten und immer noch erleben müssen. Wir setzen uns in einen kleinen, schwach beleuchteten Raum am Ende des Flurs und beginnen das Gespräch.

Unter dem Ärmel von Ruslanas schwarzen Kapuzenpullovers blitzen Tattoos hervor, wenn sie gestikuliert. Sie ist eine 24 Jahre alte Frau mit ernstem, nachdenklichen Gesichtsausdruck. Sie lebt schon seit Januar in Aachen und ist in der Vergangenheit viel gereist, auch nach Deutschland, weil sie hier Arbeit gesucht hat. Ruslana mag das Land und die Menschen. Sie spricht als einzige der drei Frauen Englisch und übersetzt für ihre Mutter Natalja und Elena.

Sie hat davon geträumt, Oma zu werden“

Natalja ist eine ruhige, melancholische Dame, 51 Jahre alt. Aufmerksam und beherrscht sitzt sie da, nur an ihren Fingern, die ständig in Bewegung sind, merkt man ihr ihr Gefühlsleben an. Mitte März ist sie aus der Ukraine geflohen, zusammen mit ihrer eigenen Mutter und der 16-jährigen Olesia. Natalja kümmert sich um die Jugendliche, weil deren Eltern in der Ukraine geblieben sind.

Zusammen mit ihrem Mann lebte Natalja bis zur Flucht in der Hafenstadt Odessa. Sie führte hier einen Beauty-Salon. Es sei ein gutes Leben gewesen, erzählt die Frau. Sie habe große Pläne gehabt, wollte eine Salon-Kette aufbauen und viel reisen. Bevor sie die nächsten Worte ihrer Mutter übersetzt, muss Ruslana kurz schmunzeln: „Sie hat davon geträumt, Oma zu werden“, erklärt sie uns ein bisschen verlegen, „und wollte dann viel Zeit mit ihren Enkeln verbringen“. Dass es zu einem Krieg kommen würde, konnte Natalja sich nicht vorstellen, auch nicht, als sich die russischen Truppen an der Grenze versammelt hatten. Und dann fielen die Bomben.

Am 24. Februar fiel Putins Armee in die Ukraine ein. Von einem Angriffskrieg spricht in Russland niemand, zumindest keine offizielle Stelle. Wer den Krieg als Krieg bezeichnet, riskiert bis zu 15 Jahre Haft. Der russische Präsident nennt ihn eine „spezielle Militäroperation“. Ihm zufolge sei der Angriff nötig, weil die ukrainische Regierung aus Nazis bestünde, die im Osten der Ukraine einen Völkermord gegen die russischstämmige Bevölkerung begehen würden. Belegt hat Putin das nicht. Tatsächlich hängen die Gründe für den Krieg vermutlich mit der NATO zusammen, der „North Atlantic Treaty Organization“. Sie ist ein Bündnis von 30 Staaten aus Europa und Nordamerika, die durch den Zusammenschluss ihre eigenen Territorien schützen und politische Sicherheit und Stabilität erreichen wollen. Gegründet wurde die NATO im Jahr 1949, um der militärischen Macht der Sowjetunion etwas entgegenzusetzen. Dadurch wurde sie während des kalten Krieges zum Gegenstück des Warschauer Paktes, einem Bündnis aller Ostblock-Staaten.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion traten aber immer mehr Länder, die ihr vorher angehört hatten, der NATO bei. Es kam zur sogenannten NATO-Osterweiterung. Auch über einen Beitritt der Ukraine wurde immer wieder diskutiert, dadurch würde Russland an noch mehr NATO-Länder grenzen.

Aus diesem Grund hält der Kreml, also die russische Regierung, die Osterweiterung für eine große Bedrohung. Mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 und der Unterstützung von separatistischen Gruppen im Donbas begann sie, Druck auf die Ukraine auszuüben, damit sie sich nicht weiter dem Westen zuwendet. Aber acht Jahre später schienen diese Maßnahmen dem Kreml nicht mehr auszureichen.

In den ersten Kriegstagen suchte Natalja mit ihrem Mann Schutz im Keller. Als die Anschläge nach fünf Tagen aber immer noch weitergingen, wurde ihnen klar, dass der Krieg nicht so schnell vorbeigehen würde, wie sie gehofft hatten. Sie flohen nach Kiew, aber auch hier holte sie der Krieg bald ein. In einem Evakuierungszug verließen sie schließlich auch diese Stadt. Es sei eine harte Flucht gewesen, erzählt Natalja. Für die Strecke von Kiew nach Czernowitz, die normalerweise 15 Stunden dauert, brauchten sie zwei Tage. Der Zug war vollgestopft mit gestressten, teils panischen Menschen. Immer wieder mussten sie an Checkpoints anhalten, wo der Zug von ukrainischen Soldat:innen kontrolliert wurde. Aber irgendwann erreichten sie Czernowitz und konnten von hier aus die nahe moldawische Grenze passieren. Ab Moldau wurde es dann einfacher: Viele Freiwillige halfen den Flüchtlingen und Natalja konnte sogar eine Vollmacht für Olesia übernehmen. In einem Bus fuhren sie weiter nach Deutschland und erreichten bald darauf Aachen.

Sirenen in Odessa

Ungefähr zur gleichen Zeit, ebenfalls in Odessa, zerschlug der Krieg auch Elenas altes Leben. Mit ihrer Familie lebte sie in der Innenstadt im achten Stock eines Hochhauses. Schon am ersten Tag des Krieges zog sie mit ihrem Mann und dem gemeinsamen 16-jährigen Sohn zu ihrer Mutter, zu groß war ihre Angst, dass ihr Haus von einer Bombe getroffen werden könnte. Aber von Tag zu Tag wurden die Angriffe schwerer und immer wieder waren die Straßen Odessas erfüllt vom Kreischen der Sirenen. Irgendwann konnte Elena ihn nicht mehr ertragen, diesen Lärm, der sie immer wieder daran erinnerte, wie nah die Gefahr war. Nicht nur für sie, auch für ihre Familie. Mit ihrem Sohn und der besten Freundin trat Elena also die Flucht an, Mann und Hund blieben zurück in Odessa.

Wohin sie fliehen würde, wusste Elena noch nicht. Hauptsache erst mal raus aus der Ukraine. Zwei Tage brauchten die Frauen, um mit dem Auto bis nach Moldau zu kommen. Es wurden zwei harte Tage, in denen sie im Auto schlafen mussten und sich nur von dem ernährten, was sie aus Odessa mitgenommen hatten. Anzuhalten, um Lebensmittel zu besorgen, wäre zu gefährlich gewesen, denn immer wieder stoppten russische Soldat:innen auch zivile Autos und ermordeten die Flüchtenden.

Endlich in Moldau angekommen, konnte Elena eine Nacht lang ausruhen, in einer Wohnung übernachten, duschen und essen. Dann führte ihr Weg sie weiter nach Deutschland, bis nach Aachen.

Die Geschichten dieser Frauen und ihrer Familien, die in Odessa begannen, trafen in Saras Wohnung aufeinander.

Von Flucht und Widerstand

Es sind vor allem Familien mit Kindern, Großmüttern und Großvätern, die ihr Land verlassen wollen. Aber nicht alle fliehen, viele bleiben im Heimatland: „Ich habe ihnen angeboten, zu mir nach Aachen zu kommen, meinen Freunden. Aber die wollten nicht, haben gesagt, dass es ihr Land sei, sie hier bleiben und hier leben möchten. Und wenn sie sterben, dann wollen sie für ihr Land sterben“, erklärt Ruslana. Aber nicht alle verlieren ihr Leben, weil sie sich für ihr Land opfern wollen. Der russische Angriffskrieg reißt auch diejenigen in den Tod, denen es nicht möglich ist, das Kriegsgebiet zu verlassen. Ruslana erzählt von Georgi, der bei einem nächtlichen Bombenangriff in Mykolayiv ermordet wurde.

Die Großeltern von Ruslanas festem Freund haben in Mariupol gelebt, erzählt sie uns. Seit Ende Februar wird Mariupol von russischen Soldat:innen belagert, fast zwei Monate später liegt die Stadt in Trümmern. Tausende Zivilist:innen wurden durch Bomben ermordet, Nahrung und Medikamente sind kaum mehr vorhanden.

Die Großeltern mussten zwei Wochen nach dem Angriff fliehen – nicht in die erhoffte Freiheit und Sicherheit, sondern nach Russland. Denn hierhin führte der einzige, nicht verminte Fluchtkorridor.

Nicht alle Russinnen und Russen unterstützen den Angriffskrieg ihrer Regierung. Immer wieder wurden in Großstädten unter dem Slogan „Nein zum Krieg“ Demonstrationen organisiert, die das autoritäre Regime aber schnell und brutal niederschlug. Dem unabhängigen russischen Medienprojekt OVD-Info zufolge kam es in den ersten Wochen des Krieges zu über 15.000 Festnahmen.

Aber ein Großteil der russischen Gesellschaft leistet keinen Widerstand gegen das Vorgehen ihrer Regierung. Dazu trägt auch die Propaganda in den Staatsmedien bei, die seit Kriegsbeginn immer wieder Putins unbelegte Vorwürfe wiederholen, um den Angriff auf die Ukraine zu rechtfertigen. Putin wird die Kontrolle über die Ukraine erlangen wollen – nicht direkt, sondern in Form einer Marionetten-Regierung. Wahrscheinlich möchte er in Kiew also Politiker:innen einsetzen, die seine Befehle ausführen und damit die Ukraine nach russischem Vorbild umgestalten.

Aber Ruslana ist Teil einer Generation, die mit der Selbstverständlichkeit von Freiheit aufgewachsen ist, ihre Heimatstadt Odessa gilt als besonders fortschrittlich und liberal. Ein autoritäres Regime, erklärt Ruslana, könne sie nicht akzeptieren. Eher würde sie in Deutschland bleiben, als in ein von Putin unterdrücktes Land zurückzukehren.

Der Weg in die Heimat versperrt vom Krieg

Vorerst versuchen die Frauen, sich in Aachen zu integrieren. Natalja ist dankbar für die Hilfsbereitschaft der Menschen, erleichtert, dass sie und ihre Kinder hier in Sicherheit leben können. Sie möchte sich anpassen und keinem zur Last fallen. Sollte der Krieg noch andauern, wird sie sich Arbeit suchen. Olesia soll dann in Aachen zur Schule gehen, statt weiter online unterrichtet zu werden.

Auf die drei Frauen werden wahrscheinlich noch Wochen der Unsicherheit und Angst zukommen. Natalja, Ruslana und Elena sind in Sicherheit, hier in Aachen, aber bis sie in ihre Heimat zurückkehren können, kann es noch dauern. Sie stehen nicht allein mit ihren Geschichten, sie teilen sich ihr Schicksal mit vielen anderen Ukrainerinnen und Ukrainern: Müttern und Vätern, Schwestern und Brüdern, Töchtern und Söhnen.

Der Regen hat aufgehört und unser Gespräch geht langsam zu Ende. Eines ist Natalja aber noch wichtig: „Seid gut zueinander, passt auf eure Freunde auf. Die Welt kann sich innerhalb eines Tages völlig ändern. Es braucht nur einen Typen ganz oben, der mit einem Mal alles zerstört, wofür ihr gearbeitet und gelebt habt.“

Eine Reportage von Vera Kaim und Clara Heuermann

Clara Heuermann

Chefredakteurin, Alliterations- und Neologismen-Fan. Schreibt über Politik, Protest und das Leben in Aachen, wenn sie nicht gerade mit ihrem Hund die Eifel unsicher macht.

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