Sibylle Keupen: „Der Ideologie-Vorwurf ist fehl am Platz“ - Au Huur! Magazin
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Sibylle Keupen: „Der Ideologie-Vorwurf ist fehl am Platz“

Sibylle Keupen will Aachens neue Oberbürgermeisterin werden. Ein Gespräch über Klimaschutz, Ideologie und ihren Rivalen Harald Baal.

Frau Keupen, Sie haben am letzten Wahlabend fast 39% der Stimmen geholt. Damit gehen Sie als Favoritin in die Stichwahlen. Hätten Sie mit so einem Ergebnis gerechnet?

Sibylle Keupen: Ich war erst einmal überwältigt. Die Prognosen waren schon sehr überraschend für eine Quereinsteigerin ohne parteipolitischen Hintergrund. Die Grünen gelten als Umfrage-Weltmeister, in der Vergangenheit waren die Umfragen aber meistens höher als das Ergebnis. Dass es hier noch darüber hinausgegangen ist, war überraschend. Ein tolles Votum und ein riesiger Vertrauensvorschuss.

Die Grünen haben jetzt die meisten Sitze im Stadtrat. Schwarz-Grün und Rot-Grün könnten hier Zukunft haben. Sie selber werden nicht der GRÜNEN-Fraktion angehören. Trotzdem: Sehen Sie die GRÜNEN in einer Koalition oder in wechselnden Mehrheiten, vielleicht in einem linken Minderheitsbündnis?

Wir wollen eine sachorientierte Politik umsetzen. Dafür suchen wir Partner, die für die Themen stehen, die die Wählerinnen und Wähler den Grünen als Auftrag mitgegeben haben. Gerade was die großen Themen der Stadtpolitik angeht, gab es bisher durchaus Überschneidungen mit anderen Parteien. Ich hoffe also, das wir ein Bündnis schmieden können, dass für diese Themen steht, damit wir sie schnell umsetzen können. Dafür brauchen wir verlässliche Partner.

An einigen Punkten unterscheide sich die Forderungen der Parteien aber stark – zum Beispiel bei der Frage nach einer autofreien Innenstadt. Wie weit würden Sie hier für Klimaschutz gehen?

Unser Ziel ist es, die Innenstadt so autofrei wie nötig und möglich zu machen. Sie muss aber erreichbar bleiben, gerade für Ältere, Menschen mit Behinderungen und Kinder. Heute Mittag bin ich bei “Critical Mass” die Theaterstraße mit dem Fahrrad hochgefahren. Wenn ich sehe, wie viel Platz hier noch ist, weil Autos auf dem eigentlichen Fußgängerweg parken, muss ich sagen: Das geht gar nicht. 

Verkehrs- und Stadtplanung sollte man bei solchen Themen vom Kind her denken. Dann wird es gut, für ältere Menschen und alle dazwischen.

Welche Alternativen zur jetzigen Situation müssen denn geschaffen werden?

Attraktive Alternativen. Einkaufsgutscheine mit Park+Ride-Tickets oder ein ökologischer Transport per Fahrradkurier zu den Parkhäusern. Grundsätzlich muss auch der ÖPNV attraktiver werden: kürzer getaktet, schnellere Wege und eine dezentrale Verkehrsführung mit einem Verteilerring. Der Bushof belastet die Innenstadt gerade sehr. Das müssen wir anpacken, auch durch mehr und komfortablere Busse. Dazu brauchen wir eine Nahverkehrs-Abgabe, die eine Finanzierung sicherstellt, die über die Tickets hinausgeht. 

Es heißt ja “öffentlicher Nahverkehr” und nicht etwa “Individualverkehr in Bussen”. Diese öffentliche Aufgabe müssen wir über ein Bürgerticket oder eine Abgabe von Unternehmen breit finanzieren. Dafür gibt es Modelle in anderen Ländern und es gibt auch gesetzliche Möglichkeiten, dass in Deutschland entsprechend umzusetzen. Das können wir als Kommunen nicht alleine, sondern müssen mit Bund und Land zusammenarbeiten. Auch da müssen wir die Mehrheiten schaffen, damit es wirklich zu einer Verkehrswende kommt. 

Vom Fußgänger über den Fahrradfahrer und den ÖPNV zum Auto, ist die Reihenfolge. Keine Wende, die von “nur Auto” auf “gar kein Auto” geht, sondern eine, die alle Menschen mitnimmt. Ich bin keine Ideologin. Es muss einfach viel cooler sein, mit dem Fahrrad in der Stadt zu fahren oder zu Fuß unterwegs zu sein, als mit dem Auto zu fahren.

“Es muss einfach viel cooler sein, mit dem Fahrrad in der Stadt zu fahren oder zu Fuß unterwegs zu sein, als mit dem Auto zu fahren.”

Sibylle Keupen

AiXformation.de-Leser und Leserinnen konnten im Vorfeld des Interviews einige Fragen stellen. Besonders viele gab es zum Thema Radfahren. Hier konnte der Radentscheid schon einiges erreichen. Die GRÜNEN setzen sich mittlerweile für die genaue Umsetzung der Forderungen ein. Warum kam da keine eigene Initiative?

Weil die Grünen nicht in der Mehrheit waren. Sie hatten keine Chance, die Angelegenheit anzupacken. Dass es diesen massiven Druck von außen brauchte, um das Thema in den Rat zu bringen, zeichnet die vergangenen politischen Jahre aus. Dann war das Thema plötzlich keine Frage mehr, und alle Fraktionen haben sich angeschlossen. Und mit dem Klimanotstand war es das Gleiche. 

Das zeigt, wie unzufrieden die Menschen sind, und wie stark der Druck ist, diese Themen umzusetzen. Deswegen sind die Themen auch bei allen Parteien auf der Agenda. Der Auftrag ist klar formuliert.

Mehrheiten können Sie jetzt organisieren. Dazu beigetragen haben sicher auch die “Fridays for Future”-Proteste. Die Bewegung hatte dazu aufgerufen, die Kommunalwahlen zu Klimawahlen zu machen. Viele haben da bestimmt an die GRÜNEN und sie als OB-Kandidatin gedacht. Aber glauben Sie wirklich, dass Sie hier die einzige Wahlmöglichkeit sind?

Ja, das Handlungskonzept Klimaschutz, dass der Stadtrat kurz vor der Wahl beschlossen hat, halte ich für eine wahltaktische Geschichte. Wie konsequent die großen Parteien sind, erkennt man an der Heizpilz-Debatte (gemeint ist die Ausnahmeregelung des Stadtrates, dass die eigentlich verbotenen Heizstrahler diesen Winter in Außen-Gastro-Flächen aufgestellt werden dürfen). Hier muss konsequent entschieden werden, und ich denke, das haben die jungen Menschen auch getan. Sie haben sich für das Original, den konsequenten Klimaschutz, entschieden. 

Lösungen, zu denen es Alternativen gibt, wurden stattdessen zu einer Grundsatzdiskussion hochgepuscht. Das ist nicht die Politik der Zukunft, die wir jetzt brauchen. Statt in solchen Fragen zu polarisieren, müssen wir auf der vereinbarten Basis bleiben und nach ihr handeln. Wir können uns keine faulen Kompromisse leisten.

“Statt in solchen Fragen zu polarisieren, müssen wir auf der vereinbarten Basis bleiben und nach ihr handeln. Wir können uns keine faulen Kompromisse leisten.”

Sibylle Keupen

Polarisiert wird nicht nur beim Klima. Harald Baal spricht bei der angekündigten Schließung der Aachener Continental-Werke auch von “grüner Ideologie zum Kreuzzug gegen das Auto”. 

Ich finde das sehr polemisch. Was meint Harald Baal mit “Ideologie”? Im Wahlkampf sind wir uns einig gewesen, dass Klima und Verkehrswende Priorität haben. Die Entscheidung von Continental wird nicht in Aachen getroffen, sondern ist eine rein kapitalistische. Der Neoliberalismus, für den die CDU steht, wird jetzt umgesetzt. Dass es Aachen trifft, ist traurig und schlimm für die Stadt. Aber es sind unternehmerische Entscheidungen, die auf anderer Ebene gefällt wurden. 

Keupen: “So eine Ebene zeigt nicht die Souveränität, die ein Stadtoberhaupt haben sollte”

Und: Mobilität der Zukunft fährt auch auf Reifen. Gerade Conti in Aachen hat hier sehr innovativ geforscht. Den Ideologie-Vorwurf finde ich fehl am Platz. Gerade in einer Diskussion, in der es um Arbeitsplätze und um Familien, die massive Existenznöte haben, zeigt so eine Ebene nicht die Souveränität, die ein Stadtoberhaupt haben sollte.

Der Lebenslauf von Ihnen und Harald Baal unterscheidet sich stark. Aber es gibt auch einige Gemeinsamkeiten. Katholische Prägung, zwei Kinder, Jahrgang 1963. Haben Sie vielleicht auch politisch etwas gemeinsam? Und was schätzen Sie an ihrem Gegenkandidaten?

Ich glaube, bei den Werten unseres politischen Handels sind wir uns sehr nahe. Die Bewahrung der Lebensgrundlagen verbindet die Grünen und die CDU – aber unterschiedlich ausgeformt. Wie die Haltung umgesetzt wird, ist aus meiner Sicht bei Herrn Baal traditionell und rückwärts ausgerichtet, in das Bewahrende. Was die Grünen angeht, vertreten wir Nachhaltigkeit, eine zukunftsorientierte Politik, die an übermorgen denkt und sich fragt: “Was müssen wir heute tun, damit die Zukunft der kommenden Generationen bewahrt bleibt?” Das ist meine Motivation, als Oberbürgermeisterin anzutreten.

Wir brauchen einen Perspektivwechsel für die Dinge, die auf uns zukommen. Harald Baal hat in den letzten Jahren als Politiker gezeigt, dass er dazu nicht in der Lage ist. Wenn ich stehen bleibe, ist das aus meiner Sicht ein Rückschritt. Denn dann gehe ich nicht nach vorne. Die Welt dreht sich, und die Stadt hat die Aufgabe, immer einen Schritt voraus zu sein. Das hat Herr Baal, die CDU und die SPD in den letzten Jahren versäumt.

“Wir brauchen einen Perspektivwechsel für die Dinge, die auf uns zukommen. Harald Baal hat in den letzten Jahren als Politiker gezeigt, dass er dazu nicht in der Lage ist.”

Sibylle Keupen

Anders als Herr Baal kommen Sie ja nicht aus der Politik. Wie wollen Sie als Seiteneinsteigerin da hineinfinden?

Was ist denn Kommunalpolitik? Nichts anderes, als die Gestaltung eines Stadtlebens aus einer mandatierten und gewählten Position heraus. Diese Gestaltung habe ich seit 26 Jahren als Leiterin der Bleiberger Fabrik aktiv mitgestaltet. Nicht politisch mandatiert, aber als Person, die eben auch einen öffentlichen Auftrag hat, nämlich kulturelle Bildung voranzubringen. Bildung für Kinder und Jugendliche und Erwachsene zu gestalten. Von daher war ich immer schon politisch, auch mit einer klaren Wertehaltung. 

Eine Oberbürgermeisterin ist mehr als  eine Mandatsträgerin im Rat. Sie trägt die Verantwortung für die ganze Stadt. Um die besten möglichen Lösungen auf den Weg zu bringen, müssen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zusammengebracht werden. Politik alleine kann die Stadt nicht zukunftsfähig gestalten, und das hat sie in der politischen Konstellation, wie wir sie hatten, sehr deutlich gezeigt. Wir müssen die Kräfte in der Stadt bündeln. Das ist eine Moderations- und Kommunikationsaufgabe. Und das kann ich. Das habe ich 26 Jahre lang hier in der Stadt bewiesen. Ich sehe mich für diese Aufgabe bestens vorbereitet und gerüstet.

Passt denn der zeitweise scharfe Ton im Wahlkampf überhaupt zum Amt eines Moderators?

Das ist einfach nicht die Form, wie ich mir einen respektvollen Umgang miteinander wünsche. Wahlkampf ist nun einmal Wahlkampf, aber das ist nicht die Art und Weise der Kommunikation, für die ich antrete. Ich bin sicher, dass – wenn die Wahl hinter uns liegt – man auch wieder auf eine Sachebene kommt, die sich auf Dialog und auf Lösung orientiert. Dafür ist der Rat gewählt worden.

“Das ist einfach nicht die Form, wie ich mir einen respektvollen Umgang miteinander wünsche.”

Sibylle Keupen

Von daher bleibe ich ruhig und hoffe, dass wir dann nach dem Wahlkampf gut miteinander ins Gespräch kommen. Da biete ich auch jegliche Kooperation und Unterstützung an. Sei es als Oberbürgermeisterin oder weiterhin als Leiterin der Bleiberger Fabrik.

Sie selber haben im Wahlkampf verstärkt auf soziale Medien gesetzt. Was haben Sie in den letzten Wochen dazugelernt?

In den letzten Monaten (lacht). Soziale Medien waren mir keine fremde Welt, aber dass ich quasi zur Insta-Queen avanciere und die Followerzahl durch die Decke geht, ist wirklich spannend und macht mir viel Spaß. Wenn Corona nicht gekommen wäre, hätten wir wahrscheinlich Wahlkampf wie immer gemacht. Aber als die Krise kam, mussten wir uns gefragt: Wie können wir weiter in Kommunikation gehen?

Man muss dabei viel über seinen eigenen Schatten springen. Ich erinnere mich an meinen ersten Instagram Live-Stream. Als ich bemerkt habe, wie viele zugucken und Fragen stellen, war ich aber begeistert, dass man die Leute ganz anders erreicht. Wenn ich Oberbürgermeisterin werde, werde ich das mitnehmen. Es ist wichtig, dass wir das, was wir in der Politik tun, stärker nach außen kommunizieren.

Wir halten fest: Sie lehnen sich im Wahlkampf nicht zurück. Befürchten Sie, dass Herr Baal die Wahl gewinnen könnte?

Ich habe noch nicht gewonnen und bewerbe mich weiter um jede Stimme. Die Wähler und Wählerinnen entscheiden am 27. September. Ich bin gespannt.


Das Interview führten Clara Heuermann und Vitus Studemund letzten Sonntag für AiXformation.de. Unser Interview mit Harald Baal (CDU) findest du hier.

Vitus Studemund

Konnte 2019 seine Freunde überzeugen, ein Online-Magazin für Jugendliche zu starten. Durchwühlt seitdem Datensätze, beobachtet Demonstrationen und schreibt über Politik, Protest und Blaulicht in der Region.

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