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    “Das iranische Regime ist unser IS” – Interview mit einem deutsch-iranischen Aktivisten aus Aachen

    Die Demonstrant:innen im Iran fordern ein Ende ihres autoritären Regimes, Solidarität erhalten sie mit ihrem Revolutionsversuch auch aus Aachen.

    Ali (Name von der Redaktion geändert) wurde in Teheran, der Hauptstadt des Iran, geboren. Hier erlebte er auch die Islamische Revolution im Jahr 1979 mit, mit der sich das brutale, autoritäre System etablierte, das immer noch im Iran herrscht.

    Ali spricht als Vertreter von „Zan Zendegi Azadi-Aachen“ (@zan_zendegi_azadi_aachen), einer Gruppe von Deutsch-Iraner:innen aus Aachen, die mit regelmäßigen samstäglichen Demonstrationen auf die Unterdrückung der Iraner:innen aufmerksam macht.

    Wie hat es sich angefühlt, im Iran aufzuwachsen?

    Früher war alles noch viel extremer. Die Jahre direkt nach der Revolution waren die schlimmsten. Heute haben wir eine Sittenpolizei – früher waren es vier oder fünf verschiedene. Du bist auf die Straße gegangen und hattest Angst. Alles war nach Geschlechtern getrennt, Männer durften keine kurzärmligen T-Shirts anziehen, sonst wurden sie verhaftet. Wenn das Kopftuch von Frauen ein bisschen zu weit nach hinten gezogen war, wurde ihnen von der Sittenpolizei Reißzwecken in die Stirn gedrückt. Auf offener Straße. Egal, wie man es sich vorstellt, die Realität hatte nochmal eine ganz andere Dimension.

    Als Kind wurdest du ständig mit der Ideologie des Regimes konfrontiert. Wenn du den Fernseher angeschaltet hast, hat immer irgendwo ein Mullah geredet, sogar das Kinderprogramm war zensiert. Das Leben bestand aus Trauer und Verboten. Es war keine schöne Kindheit.

    Was ist mit deiner Familie im Iran?

    Man macht sich natürlich Sorgen, jeden Tag. Wie es ihnen geht, ob sie noch leben. Ich weiß, dass Teile meiner Familie an den Protesten teilnehmen. Wir haben seit über drei Monaten schlaflose Nächte, ich hab fast zehn Kilogramm abgenommen. Ich wache nachts auf und lese die Nachrichten. Das ganze Leben dreht sich seit drei Monaten nur noch darum.

    Hast du Hoffnungen, sie bald wieder besuchen zu können?

    Wir werden nicht mehr in den Iran reisen können, so lange dieses Regime an der Macht ist. Das ist vorbei. Man steht eines Morgens auf, guckt in den Spiegel und weiß, dass das alles so nicht weitergehen kann. Ich kann nicht einfach so zusehen, wie Jugendliche auf der Straße ermordet werden, ich muss was tun. Und in dem Moment musst du dich entscheiden, für die Familie oder für den Protest und damit auch das Risiko, politisch verfolgt zu werden. Bei der Einreise vielleicht verhaftet zu werden. Du musst abwägen, wie viel es dir wert ist, mit deinem eigenen Gewissen klarzukommen.

    Hast du deine Entscheidung jemals bereut?

    Meiner Mutter geht es zur Zeit nicht gut, da zweifel ich schon manchmal an dem, was ich mache. Aber der Preis, den ich bezahle, ist nichts im Vergleich zu dem, was die jungen Frauen und Männer auf der Straße im Iran gerade riskieren.

    Es macht mich natürlich traurig – ich liebe meine Familie, das Essen, das Zusammensein, die Leute und die Natur im Iran, aber wenn ich mich nochmal entscheiden müsste, würde ich wieder so wählen.

    Ist es auch das Gefühl der Ohnmacht, das euch antreibt? Oder was sonst?

    Wir sehen hier eine ganz andere Form des Zusammenlebens, mit freier Meinungsäußerung und der Möglichkeit, eine andere Überzeugung zu haben, aber trotzdem im Namen des Vaterlandes zusammenzuarbeiten. Und das haben wir Deutsch-Iraner hier in Deutschland gelernt: dass es an erster Stelle um die Bevölkerung geht.

    Wir organisieren die Proteste, damit die nächste Generation nicht auch wieder als Flüchtlinge in ein anderes Land fliehen muss. Denn keiner verlässt seine Heimat freiwillig.

    Die Protesten finden jetzt seit über drei Monaten statt und das Regime macht noch keine Anstalten, seinen gewaltsamen Kurs zu ändern. Unter welchen Bedingungen, glaubst du, werden die Proteste enden?

    Das Regime wird nicht nachgeben. Das einzige, was an der Situation wirklich was ändern wird, ist der Regimewechsel. Alles andere wäre nur scheinheilig seitens der Regierung, im Hintergrund würde es so weitergehen wie in den letzten 43 Jahren. Das Regime ist unser IS. Seitens der Demonstranten gibt es da kein Wenn und Aber.

    Die Aufmerksamkeit versucht ihr mit euren samstäglichen Demonstrationen aufrechtzuerhalten, die regelmäßig von mehreren hundert Menschen besucht werden. Was für Menschen sind das – und warum kommen sie?

    Es sind ungefähr 60 % Iraner und 40 % Deutsche, die an unseren Demos teilnehmen. Die Zahl der Deutschen nimmt aber stetig zu, ich hoffe, dass sie langsam einen Eindruck von uns und unserer Sache gewinnen. Auch die Medien haben einige Zeit gebraucht, bis sie nicht mehr von einem Frauenaufstand, sondern von einem Regimewechsel gesprochen haben. Allein das Wort „Revolution“ haben sie sehr lange nicht in den Mund genommen. Deshalb war der Eindruck der Bevölkerung lange Zeit, dass da nur ein paar wenige Frauen wären, die ihre Kopftücher weglassen wollen. Aber jetzt kommt zum Glück bei den Leuten an, dass es keine normalen Proteste sind, sondern eine Revolution.

    Glaubst du, dass die Protestbewegung auch in Deutschland Auswirkungen auf unsere Gesellschaft haben könnte?

    Als meine Frau das erste Mal mit mir in den Iran fahren wollte, haben ihr alle Bekannten geraten, bloß nicht hinzugehen. Ich würde mich dort verändern, sie in irgendeinen Keller sperren und so. Diese falsche Vorstellung von den Menschen ist durch die Medien entstanden.

    Auf der letzten Demonstration habe ich ein deutsches Ehepaar getroffen, das von Bekannten auf uns aufmerksam gemacht wurde. Am Ende erzählten sie, dass sie nie damit gerechnet hätten, wie falsch ihr Bild über die iranische Bevölkerung sein könnte. Das freut uns natürlich! Ich hoffe, es verbreitet sich, dass wir weder Terroristen sind noch eine Atombombe wollen.

    Behindern diese Vorurteile auch die Proteste?

    Bei einer unserer Demos kam einmal eine Deutsche vorbei, die sagte, wir sollten uns erst um die Scheiße kümmern, die in Deutschland laufen würde, bevor wir für die Freiheit im Iran kämpfen könnten. Das war zum Glück die einzige Reaktion dieser Art, in den allermeisten Fällen sind die Menschen freundlich.

    Aber natürlich interessieren sich nicht alle für den Iran. Wir müssen an unsere Termine denken, müssen zur Arbeit, müssen dies machen und das machen… Dieser ganze Alltag nimmt einen mit. Und wenn man dann auf der Couch sitzt, will man verdammt nochmal nicht auch noch etwas über den Iran hören. Aber wir als Bewegung versuchen natürlich, diesen Druck aufrecht zu erhalten.

    War der Beginn der Protestbewegung auch für euch ein Weckruf, dass es an der Zeit ist, etwas zu ändern?

    Ein Weckruf nicht, denn das wussten wir schon vorher. Aber es war Hoffnung. Es ist immer so, dass erst etwas passieren muss, damit sich etwas ändert. Der Tod von Mahsa Amini hat das alles angetrieben, wäre sie nicht gestorben, hätte sich der ganze Protest nicht so schlagartig entwickelt. Black Lives Matter, George Floyd – es muss immer etwas passieren, damit die Welt aufwacht. Und dieses Mal hatten wir das große Glück, dass der Tod von Mahsa Amini durch Deutschland, durch Amerika, durch die ganze Welt gegangen ist.

    Der Iran ist im Dezember aus dem UN-Frauenrechtsgremium rausgeschmissen worden. Es wurde eine Kommission zur Untersuchung der iranischen Kriegsverbrecher gegründet. Das war alles nur durch die Aufmerksamkeit der Menschen möglich.

    Gibt es sonst noch etwas, das dir wichtig ist?

    Bitte, bitte, an alle Menschen, die Zeit haben: Kommt auf unsere Demos, seid nicht scheu, habt keine Vorurteile. Wir gehören keiner politischen Partei an, folgen keiner politischen Gesinnung oder Ideologie. Wir sind ganz einfache Menschen, die Dinge fordern, die jedem Menschen zustehen: Das Recht auf körperliche Selbstbestimmung, auf einen eigenen Lebensstil, auf Bildung. Zan, Zendegi, Azadi – Frauen, Leben, Freiheit. Fertig.

    Das Interview führten Julia Kastner und Clara Heuermann.

    Clara Heuermann
    Clara Heuermann
    Chefredakteurin, Alliterations- und Neologismen-Fan. Schreibt über Politik, Protest und das Leben in Aachen, wenn sie nicht gerade mit ihrem Hund die Eifel unsicher macht.

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